Kuschelhormon: Wie Oxytocin bei der Geburt wirkt

Baby greift nach der Hand von Mama oder Papa
Die Mutter schüttet Oxytocin schon beim Denken an das eigene Baby aus.
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Oxytocin ist ein Hormon, das in der Schwangerschaft, während der Geburt und in der Stillzeit eine ganz besondere Stellung einnimmt: Es bewirkt das Einsetzen der Geburtswehen und bringt später den Milchfluss in Gang.

Medizinische Expertise

Karin Müller

Karin Müller

Hebamme
Lazarettgasse 8/1B/1, 1090 Wien
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Zusätzlich hat das auch als "Wehen-", "Liebes-" oder "Kuschelhormon" bezeichnete Oxytocin auch wichtige emotionale Funktionen: Es wird mit psychischen Zuständen wie Vertrauen, Zuneigung und Ruhe in Verbindung gebracht und beeinflusst das zwischenmenschliche Verhalten. Eine besondere Rolle spielt es bei der Mutter-Kind-Bindung (Bonding). Oxytocin kann chemisch nachgebaut werden und kommt in dieser Form auch bei Bedarf als wehenfördernde Infusion in der Geburtshilfe zum Einsatz.

Oxytocin wurde im Jahr 1906 vom britischen Forscher Henry Dale entdeckt. Es wird unter anderem im Gehirn in einem Kerngebiet des Hypothalamus (Nucleus paraventricularis) sowie im Hypophysenhinterlappen, in der Plazenta und in den Eihäuten produziert – vermehrt gegen Ende der Schwangerschaft.

Der Körper schüttet Oxytocin beispielsweise aus beim

  • Gebären
  • Stillen
  • bei liebevollen Berührungen (z. B. Streicheln, Massage, Umarmen)
  • während des Geschlechtsverkehrs
  • in hohen Dosen beim Orgasmus – daher wird Oxytocin auch als "Liebeshormon", "Kuschelhormon" oder "Bindungshormon" bezeichnet; auch als "Wehenhormon", "Frauen-" oder "Stillhormon" ist es im Volksmund bekannt.
  • beim Schreien eines Babys: Bei stillenden Müttern wird Oxytocin nicht nur ausgeschüttet, wenn sie ihr eigenes Baby weinen hören, sondern sogar, wenn ein anderes Baby schreit.
  • beim Denken an das eigene Baby
  • Babys produzieren besonders viel Oxytocin nach dem Nuckeln

Kurz vor der Geburt nimmt die Dichte von Oxytocinrezeptoren im Gewebe der Gebärmutter (Uterus) zu. Oxytocin löst in der Gebärmutter dann Muskelkontraktionen aus und bewirkt gemeinsam mit noch anderen Hormonen (z. B. Prostaglandine, Östrogene) das Einsetzen der Geburtswehen. Während der Geburt steigt die Oxytocin-Konzentration ständig weiter an. Die Wehentätigkeit verstärkt sich dadurch, bis das Baby schließlich das Licht der Welt erblickt.

Auch während des Stillens führt Oxytocin zur Kontraktion der Gebärmutter und fördert so deren Rückbildung. Zudem sorgt es dafür, dass sich die milchbildenden Zellen in der Brust zusammenziehen und die Milch in die Milchkanäle pressen (sog. Milchspendereflex). Schon Hungerschreie des Babys bewirken eine Ausschüttung von Oxytocin. Wenn das Kind dann an der Brust saugt, schüttet die Mutter ebenfalls Oxytocin aus.

Wenn der Körper Oxytocin ausschüttet, werden zeitgleich auch immer schmerzstillende Substanzen, nämlich Endorphine und Encephaline (körpereigene Opiate) ausgeschüttet. Diese führen zu einem Gefühl von Befriedigung, Wohlbefinden und Euphorie. Darüber hinaus spielt Oxytocin eine wichtige Rolle bei der Stressregulierung: Es senkt den Spiegel des Stresshormons Cortisol und wirkt auf diese Weise beruhigend und angstlösend. So wird die Geburt trotz Schmerzen möglich und die Gebärende kann sich in den Wehenpausen wieder entspannen. Der Name des Hormons setzt sich übrigens zusammen aus den altgriechischen Wörtern ōkys = "schnell" und tokos = "Geburt": okytokos = "leicht gebärend" oder "schnelle Geburt".

Pharmakologisch wird künstlich hergestelltes Oxytocin schon seit längerem in der Geburtshilfe angewandt: Es kommt bei Bedarf zum Einsatz, etwa um die Geburt einzuleiten oder die Wehen zu verstärken. Auch nach der Geburt kann es Frauen gegeben werden, z.B. um das Zusammenziehen der Gebärmutter zu unterstützen, damit die Plazenta (Mutterkuchen) ausgeschieden wird (Nachgeburt) oder auch, falls die Mutter starke Nachblutungen hat. Dazu wird es in Tablettenform, als Nasenspray oder zumeist als Infusion ("Wehen-Tropf") verabreicht. Da Oxytocin auch den Milchfluss fördert, bekommen es Frauen, die Probleme beim Stillen haben, manchmal verschrieben.

Zudem gibt es einen Oxytocin-Empfindlichkeitstest (auch Oxytocin-Sensibilitätstest oder Wehenbelastungstest genannt), mit dem die Wehenbereitschaft der Gebärmutter eingeschätzt und die Reaktionen des Kindes unter den Wehen, also bei Stress, erfasst werden können. Der Wehenbelastungstest gilt jedoch als unpräzise, veraltet und wird zunehmend weniger durchgeführt.

Heute ist die farbkodierte Dopplersonografie eine aussagekräftigere und risikoarme Alternative für Mutter und Kind, wenn man untersuchen will, ob das Kind am Ende der Schwangerschaft noch ausreichend über die Plazenta versorgt wird (fragliche Plazentafunktion).

Oxytocin beeinflusst nicht nur körperliche Vorgänge, sondern auch das Sozialverhalten: Wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge steigert es das Vertrauen gegenüber Mitmenschen, die emotionale und soziale Kompetenz sowie die Bindungsfähigkeit. Forscher bezeichnen die Ergebnisse der Studien als einen ersten Baustein, um die biologischen Grundlage von Vertrauen zu ergründen. Zudem baut Oxytocin Stress – genauer: das "Stress-Hormon" Cortisol – ab, wirkt angstlösend und beruhigend. Es verschafft also angenehme, manchmal sogar lustvolle Gefühle.

Viele Frauen berichten, dass sie beim Stillen ihres Kindes ruhiger werden und abschalten können, was auf die Oxytocin-Ausschüttung zurückgeführt wird. Da beim Baby vor allem nach dem Nuckeln Oxytocin freigesetzt wird, ist es nach dem Stillen oder Füttern ebenfalls entspannt und glücklich. Diese emotionalen Wirkungen des Oxytocins verstärken die emotionale Bindung von Mutter und Kind (Bonding).

Interessant ist: Autisten, die bekanntlich Schwierigkeiten mit Bindungen haben, da sie kaum emotionalen Kontakt zu ihren Mitmenschen herstellen können, haben niedrigere Konzentrationen von Oxytocin im Blut als Menschen ohne diese psychische Störung. Deshalb wird bei Autismus ein möglicher therapeutischer Einsatz von Oxytocin diskutiert. Überlegt wird dieses Vorgehen auch bei weiteren Krankheitsbildern, durch die soziale Kompetenzen geschwächt sind: etwa bei Angststörungen (vor allem Sozialphobie), bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen oder Schizophrenie.


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Redaktionelle Bearbeitung:
Medizinisches Review:
Erstellt am:

14. Juli 2017

Stand der medizinischen Information:

14. Juli 2017

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