Beim peripheren Nervensystem (PNS) handelt es sich um jenen Teil des menschlichen Nervensystems, der außerhalb des Gehirns und Rückenmarks bzw. des Schädels und des Wirbelkanals liegt. Es verläuft wie ein Stromnetz oder wie eine Schnur durch den gesamten Körper und zeichnet für die Wahrnehmung bzw. Weiterleitung von Berührungen, Temperatur oder Schmerz verantwortlich. Des Weiteren sind die zum peripheren Nervensystem gehörenden Nerven für die Steuerung der Muskulatur zuständig
Wenngleich eigentlich das periphere Nervensystem die Schmerzweiterleitung zum Gehirn, das zum Zentralnervensystem (ZNS) gehört, zur Aufgabe hat, kann es mitunter selbst zur Schmerzursache werden bzw. von Schmerzen betroffen sein. In solchen Fällen spricht man von neuropathischen Schmerzen oder Nervenschmerzen, die aufgrund von Schädigungen oder Erkrankungen nervaler Strukturen entstehen.
Ein peripherer Nerv ist äußerst komplex und folgendermaßen aufgebaut:
Ein Nerv setzt sich aus parallel laufenden Nervenfasern zusammen, die wiederum in eine Bindegewebshülle eingebettet sind. Dieses Bindegewebe besteht aus drei Zonen:
Periphere Nerven versorgen die Erfolgsorgane und werden in sensorische oder sensible (= bezieht sich auf die Wahrnehmung von Reizen der Sinnesorgane), motorische (= betreffen den Bewegungsablauf) und gemischte Nerven unterteilt. Sie sind einerseits sehr elastisch und stabil, reagieren allerdings andererseits hochsensibel auf äußere Reize oder anatomische bzw. ihre Anatomie betreffende Veränderungen.
Periphere Nerven werden in den meisten Fällen nach dem Gebiet, das sie versorgen oder nach ihrer Leitstruktur benannt. Beim Nervus pudendus beispielsweise handelt es sich um den Schamnerv, der Nervus ulnaris wiederum ist der Ellennerv (ulnar = zur Elle hin bzw. zur Elle gehörig). Sie sind im Gesicht, der Haut und dem Körper zu finden, sind dünn, dick und verzweigen sich bei Bedarf.
Nervenschmerzen strahlen in das Versorgungsgebiet einer oder mehrerer Nerven aus, während sie gleichzeitig von ihnen verursacht werden. Diese Schmerzen können sich bis zur Unerträglichkeit steigern und chronisch werden.
Die Ursachen für neuropathische Schmerzen oder Nervenschmerzen sind mannigfaltig und haben eines gemeinsam: Die meist ununterbrochene Weiterleitung von Schmerzsignalen ans Gehirn, wobei der Nerv selbst als Schmerzursprung bzw. das periphere Nervensystem als Schmerzverursacher bezeichnet werden kann. Nervenschmerzen werden durch eine Verletzung oder Dysfunktion an einer oder mehreren Stellen des peripheren Nervensystems verursacht und als brennend, dumpf, stechend oder bohrend beschrieben. Auftreten kann diese Schmerzform am Kopf, dem Rumpf, dem Hals sowie an allen Extremitäten.
Neuropathischer Schmerz bzw. Nervenschmerz tritt in der Regel aufgrund von Faktoren auf, die das Nervensystem verändern und so irritieren, dass es nicht mehr einwandfrei funktioniert. Zu dieser Schmerzform kann es kommen:
Wird beispielsweise die Gürtelrose, auch Herpes Zoster genannt, zu spät oder unzureichend behandelt, können die für sie charakteristischen Schmerzen chronisch werden. Das bedeutet, dass Betroffene nach Abheilung des damit einhergehenden Hautausschlags mit einem dumpfen, brennenden Dauerschmerz konfrontiert sind.
Wurde ein Nerv im Rahmen einer Operation verletzt, äußert sich dies meist in permanenten brennenden, kribbelnden oder stechenden Schmerzen. Je nachdem, welcher Nerv in Mitleidenschaft gezogen wurde, können außerdem Muskelschwäche oder Lähmungen auftreten.
Eine nichttraumatisch verursachte Erkrankung, die generalisiert oder über mehrere Nerven oder Innervationsgebiete auftritt und das periphere Nervensystem betrifft, wird Polyneuropathie genannt. Sie ist wiederum eine Folge bestimmter Erkrankungen oder anderer Faktoren wie:
Die Polyneuropathie kann motorische, vegetative sowie sensible Nerven betreffen und geht mit vielfältigen Symptomen einher, wie z. B. einerseits Taubheit, andererseits extremer Berührungsempfindlichkeit.
Für neuropathischen Schmerz bzw. Nervenschmerz gibt es bestimmte Auslöser, er kann aufgrund mechanischer, entzündlicher, stoffwechselbedingter sowie toxischer Einflüsse entstehen. Er tritt niemals grundlos oder ohne Vorgeschichte auf, allerdings gestalten sich die Ursachenforschung und die Behandlung von Nervenschmerzen mitunter schwierig.
Nervenschmerz bzw. neuropathischer Schmerz hat viele Gesichter. Allein gemeinsam ist, dass sich diese Schmerzform zur Unerträglichkeit steigern kann. Betroffene berichten von einschießenden starken Schmerzen, die anfallsartig auftreten und sich stechend, brennend, „elektrisch“ oder dumpf äußern. Sie können begleitet sein von Parästhesien (= schmerzhafte Empfindungen im Hautnerv-Versorgungsgebiet), Hyper-/Hypoästhesien (= übermäßige Hautempfindlichkeit), Hyperalgesie sowie Allodynie (= übersteigerte Schmerzempfindlichkeit auf einen schmerzhaften Reiz bzw. Schmerzauslösung bei kleinsten Berührungen). Je nachdem, welche Region betroffen ist, können sich Nervenschmerzen unterschiedlich äußern.
Periphere Nerven, die sich wie ein Stromnetz durch den Körper ziehen, sind anatomisch bedingt mit Engstellen konfrontiert. Werden diese aufgrund bestimmter Einflüsse noch enger (z. B. im Falle von Wassereinlagerungen während einer Schwangerschaft), kann das den davon betroffenen Nerv negativ beeinflussen. Es kommt zu einem so genannten Nervenkompressionssyndrom, auch Nerveneinengungssyndrom genannt. Dazu zählt das sehr bekannte Karpaltunnelsyndrom (= Einengung des Nervus medianus / Mittelarmnervs im Handgelenkbereich). Zu den Beschwerden zählen
Ähnlich verhält es sich mit dem Tarsaltunnelsyndrom, das als Pendant des Karpaltunnelsyndroms bezeichnet werden kann und den im Fuß befindlichen Nervus tibialis betrifft. Es äußert sich durch Missempfindungen, Schmerzen in den Zehen oder dem gesamten Fuß, Ameisenlaufen, vermindertes Gefühl in der Fußsohle, Brennen etc.
Das Lendennervengeflecht kann ebenfalls von Problemen betroffen sein. Zu diesem gehören:
Weitere Ursachen sind:
Das Paradoxe an Nervenschmerzen bzw. neuropathischen Schmerzen ist, dass sie einerseits für eine Gefühlsminderung im Bereich betroffener Regionen sorgen, andererseits aber mit einer extremen Berührungs- und Schmerzempfindlichkeit einhergehen. Sie können sich mit der Zeit verändern, stärker werden und sich negativ auf die Psyche auswirken.
Die Diagnose besteht zunächst aus einem ausführlichen Patientengespräch zur Erfassung der Krankengeschichte (= Anamnese) sowie einer körperlichen Untersuchung. Des Weiteren kann ein Schmerzfragenbogen hilfreich sein, der die Schmerzart, die Schmerzstärke (VAS-Skala), die Dauer, die Intensität usw. beinhaltet und dokumentiert. Das Führen eines Schmerztagebuchs hat sich ebenfalls bewährt und hilft dem Untersucher dabei, den Dingen auf den Grund zu gehen.
Je nach betroffener Region lassen sich Nervenschmerzen bzw. neuropathische Schmerzen anhand klinischer Test diagnostizieren. Zu diesen zählen:
Hoffmann-Tinel-Test bzw. Hoffmann-Tinel-Zeichen: Beklopfen des Nervenversorgungsgebietes, das im Falle eines Nervenproblems elektrisierend schmerzt.
Phalen-Test: Die Handrücken werden aneinandergelegt, während die Handgelenke gebeugt sind und die Finger nach unten zeigen. Liegt ein Karpaltunnelsyndrom vor, kommt es in den meisten Fällen innerhalb kürzester Zeit zu Empfindungsstörungen im Handgelenksbereich.
Flaschen-Test: Ist der Nervus medianus entsprechend geschädigt, können Betroffene keine zylindrischen Gegenstände (z.B. Flaschen) mehr vollständig umgreifen, da die Daumenmuskeln geschwächt sind.
Neurologische Untersuchungen wie Nervenleitgeschwindigkeitsmessung (NLG), Sensibilitätstest (Muskeln, Haut, Reflexe), Elektroneurographie (= elektrische Reizung peripherer Nerven)
Laboruntersuchungen, z.B. zum Ausschluss neurotroper Infekte wie Borreliose oder Herpes
Da periphere Nerven in der Bildgebung (Röntgen, Computertomographie, Magnetresonanztomographie) nicht bzw. in den seltensten Fällen darstellbar sind und manche Tests trotz eindeutiger Schmerzsymptomatik ergebnislos bleiben, ist der hochauflösende Ultraschall bzw. die hochauflösende Sonographie zur Diagnosestellung von großer Bedeutung. Mittels dieses bildgebenden Verfahrens lassen sich kleinste Nervenfasern und ihre Umgebung (Bänder, Sehnen, Muskeln) millimetergenau darstellen. Der neuropathische Schmerz bzw. Nervenschmerz kann somit sichtbar gemacht werden, wenn andere Maßnahmen erfolglos bleiben. Des Weiteren gilt der Ultraschall als ergänzendes Tool, um bereits diagnostizierte Erkrankungen, Verletzungen oder Ähnliches zweifelsfrei sichtbar zu machen bzw. darzustellen.
Zur exakten Diagnosestellung ist ein interdisziplinärer Ansatz (Neurologie, Radiologie, Orthopädie, Nervenchirurgie) maßgeblich. Neben der Schmerzart muss die Schmerzursache festgestellt werden. Handelt es sich ohne Zweifel um Nervenschmerzen bzw. neuropathische Schmerzen, ist das zeitnahe Erkennen der Ursache oftmals von großer Bedeutung. Je nachdem, welches Problem zugrunde liegt, besteht schneller Handlungsbedarf, um irreversible Schädigungen zu verhindern.
Die Behandlung neuropathischer Schmerzen bzw. von Nervenschmerzen reicht von konservativ bis chirurgisch und ist in den meisten Fällen multimodal. Herkömmliche Schmerzmittel wie nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR) greifen im Falle von Nervenschmerzen nicht.
Bewährt haben sich
Antikonvulsiva (= Antiepileptika)
Opiate
Antidepressiva
Cannabinoide
Oberflächen-Therapien wie Capsaicin- oder Lidocain-Pflaster
Des Weiteren können in manchen Fällen Kortisoninjektionen, Ruhigstellung, z.B. mittels Schiene, transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS), Physiotherapie, Ergotherapie, Krankengymnastik, Gleichstromtherapie, Kompression, Kältetherapie oder Salbenverbände für Linderung sorgen. Eine Psychotherapie kann ebenfalls hilfreich sein.
Sind alle konservativen Maßnahmen ausgeschöpft oder liegt eine entsprechende Indikation vor, sollten Nervenschmerzen chirurgisch, also mittels Operation, behandelt werden. Ziel einer solchen Maßnahme ist es, betroffene Bereiche zu entlasten und / oder zu reparieren, um im besten Falle eine vollständige Schmerzfreiheit zu erlangen. Durchgeführt werden solche Eingriffe in der Regel von Fachärzten für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie, allerdings sind auch Neurochirurgen sowie orthopädische Chirurgen mitunter auf periphere Nervenchirurgie spezialisiert. Im Rahmen eines Eingriffs können je nach zugrunde liegender Problematik folgende chirurgische Interventionen erfolgen:
Neurotomie/Neurektomie: vollständige oder teilweise Durchtrennung der betroffenen Nervenfasern/des betroffenen Nervs bzw. Durchtrennung und Entnahme eines Teilstücks des betroffenen Nervs
Neurolyse: Druckbeseitigung bzw. Druckentlastung des betroffenen Nervs
Exstirpation: vollständige Durchtrennung und Entfernung jener Nervenfasern, von deren Schwann-Zellen der Nerventumor ausgeht und anschließende Entfernung desselben
Doch nicht nur Schmerzfreiheit kann mittels Operation erzielt werden. Bei von diabetischer Polyneuropathie Betroffenen lassen sich mittels Nervenchirurgie Amputationen vermeiden, die früher aufgrund nicht heilender Wunden im Fuß oder Unterschenkelbereich vorgenommen werden mussten. Bei Diabetikern füllen sich die Nerven mit Wasser, wodurch sie anschwellen und sowohl Schmerzen als auch zu Taubheitsgefühle verursachen. Dadurch wird die Entstehung von Wunden oftmals zu spät bemerkt. Diabetiker neigen zu Wundheilungsstörungen bzw. schlecht heilenden chronischen Wunden, die mitunter eine Amputation der betroffenen Extremität nötig machen. Die periphere Nervenchirurgie kann das hinauszögern bzw. verhindern.
Vor Operationen am peripheren Nervensystem kann mittels lokaler Betäubung getestet werden, ob Patienten von einem Eingriff profitieren würden. Die so genannte Testblockade ist mit einer Spritze beim Zahnarzt vergleichbar und legt den betroffenen Nerv im Idealfall für mindestens zwei Stunden still (= zweistündige Schmerzfreiheit). Daraus lässt sich schließen, ob eine Operation helfen kann, schmerzfrei zu werden. Eine präoperative Hautmarkierung unter Ultraschall erlaubt es dem Chirurgen, zielgenau zu schneiden und somit zu große Hautschnitte zu vermeiden.
Priv. Doz. Dr. Gerd Bodner
Facharzt für Radiologie und Nervenspezialist
Der Experte war langjähriger Leiter des Bereichs neuromuskulärer Ultraschall an der klinischen Abteilung für Neuroradiologie und Muskuloskeletale Radiologie der Medizinischen Universität Wien und arbeitet im 1. Wiener Nervenschmerz Zentrum interdisziplinär mit seinen Kollegen zusammen.
OA Dr. med. univ. Veith Moser
Facharzt für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie, Handchirurgie, Nervenchirurgie
Leiter der Rekonstruktiven Ambulanz im AUVA-Traumazentrum Wien am Standort Lorenz Böhler und Gründer des 1. Wiener Nervenschmerz Zentrum