Bulimie (Bulimia nervosa, Ess-Brech-Sucht)

Frau mit Bulimie erbricht
Bulimie-Kranke erleiden Essanfälle und erbrechen sich in Folge.
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Bulimie ist eine psychosomatische Erkrankung, bei der die größtenteils weiblichen Patienten Essanfälle haben und sich danach übergeben. 

Medizinische Expertise

Brigitte Schigl

Dr.in Brigitte Schigl, MSc

Psychotherapeutin, Klinische und Gesundheits-Psychologin
Rembrandtstraße 4/11, 1020 Wien
www.psyweb.at
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Manche Betroffene versuchen das Überessen auch durch exzessiven Sport oder die Einnahme von Abführmitteln zu kompensieren. Die Auslöser der Essstörung sind vordergründig das Streben nach einem gesellschaftlich vermittelten körperlichen Idealbild. Dahinter liegen oft hohe Ansprüche an sich selbst, wenig Selbstliebe und der Wunsch, nach außen hin möglichst perfekt zu erscheinen. Wie bei der Magersucht versuchen Erkrankte durch Hungern abzunehmen, erleiden Essanfälle und leiten dann Gegenmaßnahmen ein, um Gegessenes wieder los zu werden. Sie haben zumeist Normalgewicht, zeichnen sich aber durch Gewichtsschwankungen aus. Die Behandlung der Ess-Brech-Sucht erfolgt durch Psychotherapie.

Bulimie betrifft vor allem junge Frauen und Mädchen zwischen dem 17. und 30. Lebensjahr (90 bis 95 %). Etwa 1 % aller Mädchen und Frauen, die dem Alter der Risikogruppe entsprechen sind betroffen. Es kommt auch vor, dass Betroffene zwischen Magersucht und Bulimie "hin und her wechseln": Zeiten des Hungerns folgen Episoden der Essanfälle und des Erbrechens. Der Großteil der Erkrankten hat einen BMI (Body-Mass-Index) von über 17,5 und gilt somit als normalgewichtig. Essstörungen wie Bulimie treten zum Teil in Kombination mit anderen psychischen Erkrankungen auf. So haben 75 % der Betroffenen im Laufe ihres Lebens mit Depressionen zu kämpfen, ein kleiner Teil der Bulimie-Kranken bekommt auch die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung (Borderline) gestellt.

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Bulimie kann unterschiedliche Entstehungsgründe haben, es gibt eine Vielzahl an auslösenden Faktoren, die im Zusammenspiel die Entwicklung der Essstörung begünstigen. Der Hauptauslöser ist wie bei allen Essstörungen ein überzogenes gesellschaftliches Schlankheitsbild, das vermittelt, dünn sein wäre gleichbedeutend mit erfolgreich und glücklich sein. Zwar gelten ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper und die Angst vor dem Dicksein als Hauptursachen für das Erbrechen nach dem Essen, familiäre Konflikte, erlebte Traumata (z.B. Vergewaltigung, Todesfall in der Familie etc.) oder ein bestimmter Persönlichkeitstyp (Ängstlichkeit, Perfektionismus, aufbrausend, wütend, wenig Selbstvertrauen, Selbsthass etc.) sind aber in der Therapie der Bulimie unbedingt zu berücksichtigen.

Die Symptome sind je nach Ausprägung der Erkrankung und Form der Bulimia nervosa unterschiedlich. Zwischen folgenden Krankheitsbildern kann unterschieden werden:

  • "Purging-Type": Erbrechen der Nahrung nach Essanfällen, bei schwerer Ausprägung der Krankheit übergeben sich die Betroffenen nach jeder einzelnen Mahlzeit und haben täglich auch mehrere Anfälle, bei denen sie meist große Mengen an (hochkalorischer) Nahrung verzehren. Ein Teil der Erkrankten erbricht auch schon nach der Aufnahme kleiner Nahrungsmengen, wie z.B. einem Joghurt. Wie oft und wann sie erbrechen, ist davon abhängig, wie weit die Krankheit fortgeschritten ist.
  • "Non Purging-Type": Betroffene haben zwar Essanfälle, erbrechen sich aber danach nicht, sondern halten strenge Diät, fasten, nehmen Abführmittel oder versuchen das Überessen durch Sport bis zur Erschöpfung auszugleichen ("Sportbulimie").

Die einzelnen Krankheitsbilder können sich überlappen oder sich in Phasen abwechseln. So kommt es vor, dass Betroffene Phasen des Binge-Eatings (übermäßiges Essen ohne Erbrechen) haben, die sich mit Zeitabschnitten der Essanfälle und des Erbrechens abwechseln. Patienten des Typs "Purger" treiben in manchen Fällen zusätzlich exzessiven Sport oder nehmen Abführmittel, um den Gewichtsverlust voranzutreiben.

Essanfälle

Bulimie-Kranke sehen sich selbst häufig als "gescheiterte Magersüchtige". Die Essanfälle werden als Blamage und Versagen empfunden, sie gehen mit Scham und Isolation von der Außenwelt einher. Sie sind hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach einem dünnen Körper und der Notwendigkeit zu Essen. Sie leben oft jahrelang mit ihrer Erkrankung, ohne dass das Umfeld die Bulimie bemerkt. Die Ess-Brech-Sucht findet im Verborgenen statt, werden die Erkrankten "entlarvt", erleben sie dies als sehr beschämend. Ein typischer Essanfall ist durch die Aufnahme großer Mengen an leicht zu verzehrenden Lebensmitteln (z.B. Nudeln, Müsli, Pudding, Süßspeisen, weiches Brot, Käse etc.) und große Mengen Flüssigkeit gekennzeichnet. Während der Essattacke erleben Betroffene einen Kontrollverlust, sie fühlen sich wie in Trance, nehmen kein Sättigungsgefühl wahr und essen bis zur Übelkeit. Bulimie-Kranke geraten durch ihre Essattacken teils auch in eine finanzielle Notlage, da sie ihr gesamtes Geld für Essen ausgeben.

15 bis 25 % aller Magersüchtigen entwickeln im späteren Verlauf Bulimie. Ein Übergang von der Ess-Brech-Sucht in die Anorexie ist hingegen seltener. Am Beginn der Erkrankung steht in den meisten Fällen strenges Diäthalten, erst später folgen die Essattacken und die jeweiligen Gegenmaßnahmen, wie Erbrechen oder Missbrauch von Abführmitteln. Die wenigsten starten die Bulimie direkt mit Essen und Übergeben. Durchschnittlich leben Betroffene 5 Jahre mit der Essstörung, bis eine Psychotherapie in Anspruch genommen wird. Die ausgeprägten Scham- und Schuldgefühle und der Irrglaube, dass man ohnehin jederzeit selber mit dem Brechen aufhören kann, wenn man nur möchte, sind Gründe für das späte Antreten einer Therapie. Bei folgenden Ausgangsfaktoren sinken die Heilungschancen der Bulimia nervosa:

  • Höheres Alter (ab 30) bei Ausbruch der Krankheit
  • Lange Dauer der Erkrankung vor Therapiebeginn
  • Kombination von Bulimie und Magersucht bzw. mehrfacher Wechsel zwischen den beiden Krankheitsbildern
  • Gestörte Familienbeziehungen
  • Mehrfach abgebrochene Behandlungen

Die Patienten erleben einen immer wiederkehrenden Kreislauf der Sucht, einen Teufelskreis, dem sie ohne Hilfe nur schwer entkommen: Diäten (gelten als Einstieg für alle Formen der Essstörung) und gezügeltem Essen folgen Kontrollverlust und Heißhungerattacken, die in Essanfällen mit anschließenden Schuldgefühlen, Scham und der Angst vor einer Gewichtszunahme einhergehen.

Der behandelnde Arzt, Psychiater, Psychologe oder Psychotherapeut wird im persönlichen Gespräch und auf folgende psychische und körperliche Auffälligkeiten achten, die auf die Essstörung Bulimie hindeuten:

Psychische Anzeichen

  • Übermäßige Beschäftigung mit Essen
  • Krankhafte Angst, zuzunehmen
  • Depressive Verstimmungen,
  • Stimmungsschwankungen
  • Missbrauch von Suchtmitteln (Drogen, Alkohol)
  • Aussagen der Angehörigen der Betroffenen: Bulimie-Kranke möchten oft nicht über die Krankheit sprechen oder gestehen sich das Ausmaß nicht ein, deshalb sind bei Jugendlichen die Informationen, welche die Familie geben kann wichtig für die Diagnose der Essstörung. Für eine erfolgreiche Therapie ist es aber Voraussetzung, dass die Betroffenen sich die Erkrankung eingestehen und selbst etwas ändern wollen.

Körperliche Anzeichen:

  • Größere und häufige Gewichtsschwankungen
  • Verdauungsstörungen / Verstopfung
  • Beschädigte Zähne und Zahnfleischentzündung durch stetigen Kontakt mit aggressiver Magensäure (Parodontitis)
  • Geschwollene Ohrspeicheldrüsen, Hals- bzw. Speiseröhrenentzündungen, wunde Stellen an den Fingerknöcheln, die durch häufiges Erbrechen entstehen können
  • Herzrhythmusstörungen (Hypokaliämie)
  • Störungen des Säure-Basen-Haushalts (Azidose, Alkalose: zu hoher oder zu niedriger pH-Wert im Blut)
  • Kaliummangel

Bei der Behandlung der Bulimia nervosa ist eine Psychotherapie die Methode der Wahl. Ein ärztliches Monitoring der körperlichen Parameter ist besonders bei häufigen Essattacken unumgänglich. Die Chancen auf Heilung sind umso höher, je frühzeitiger sich die Erkrankten in Therapie begeben. Voraussetzung für die Genesung sind genügend Motivation und der Wille der Betroffenen Hilfe überhaupt annehmen zu wollen. Bulimie-Kranke werden zumeist ambulant psychotherapeutisch behandelt, bei schwerem Verlauf oder bei zusätzlichen psychischen Erkrankungen werden Patienten auch stationär aufgenommen. Folgende Therapiemethoden sind bei der Behandlung der Ess-Brech-Sucht üblich:

  • Psychotherapie: ist die erste Wahl in bei der Behandlung von Patienten mit Bulimie. Der Fokus der Psychotherapie liegt auf der Stärkung des Selbstwertgefühls und der Konzentration auf die Problematik der Überbewertung von Figur und Gewicht. Familientherapie (v.a. bei Patienten unter 16 Jahren) als auch die Anleitung zur Selbsthilfe, z.B. durch Selbsthilfemanuale, hat sich als zielführend erwiesen.
  • Medikamentöse Therapie: Manche Betroffene haben Depressionen, weswegen eine Kombination aus Psychotherapie und Medikamentengabe manchmal unterstützend sinnvoll ist.
  • Essverhalten: chaotisch und hektisch, z.B. selten geregelte Mahlzeiten, oft längere Hungerphasen, es wird entweder sehr viel oder sehr wenig gegessen, kontrolliertes Essverhalten in der Öffentlichkeit oder Vermeidung von Nahrungsaufnahme an öffentlichen Plätzen oder vor anderen Menschen, Essanfälle im Verborgenen, Unmengen an Lebensmittelverpackungen im Müll. Die Betroffenen versuchen sich meist „gesund“ zu ernähren, d.h. essen wenig Kohlehydrate, viel Obst und Gemüse, wenig Fett. Sie werden unruhig, wenn solches Essen nicht zur Verfügung steht.
  • Regelmäßige Toilettenbesuche nach dem Essen: Laufen lassen des Wasserhahns oder Betätigung der Spülung, um Brechgeräusche zu übertönen
  • Horten und Verstecken von Lebensmitteln: große Mengen an Essen verschwindet aus dem Kühlschrank oder der Vorratskammer
  • Sportverhalten: Exzessiver Sport bis zur Erschöpfung
  • Ständige Beschäftigung mit Essen und Gewicht: z.B. intensives Studieren von Nährwertangaben auf Lebensmittelverpackungen, Kalorienzähl-Apps
  • Starke Stimmungsschwankungen
  • Maskarade: Aufrechterhalten einer perfekten Fassadenpersönlichkeit
  • Körperliche Veränderungen: wie beschädigte Zähne, gerötete Augen, aufgedunsenes Gesicht, oder eventuell unregelmäßige/ausbleibende Regelblutung

Informieren Sie sich über die Möglichkeiten zur Psychotherapie, suchen Sie eine Psychotherapeuten auf, der auf Essstörungen spezialisiert ist (Gruppen- oder Einzeltherapie). Begleitend können Sie sich an eine Selbsthilfegruppe in Ihrer Nähe wenden. Sprechen Sie mit Familie und/oder Freunden über die Erkrankung, lassen Sie sich helfen. Versuchen Sie, die Auslöser für Ihre Essanfälle herauszufinden, starten Sie z.B. ein Tagebuch.


Autor:in:
Redaktionelle Bearbeitung:
Medizinisches Review:
Zuletzt aktualisiert:

29. April 2019

Erstellt am:

7. Juli 2017

Stand der medizinischen Information:

29. April 2019


ICD-Code:
  • F50

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